Prof. Dr.-Ing. habil., Dr. h.c. Egon-Christian von Glasner: Die neue Reifen-Gesetzgebung der Europäischen Union gefährdet die Verkehrssicherheit beim Bremsen auf nasser Fahrbahn

Artikel aus Newsletter Ausgabe 15, April 2014

Bild: Prof. Dr.-Ing. habil., Dr. h.c. Egon-Christian von GlasnerProf. Dr.-Ing. habil., Dr. h.c. Egon-Christian von Glasner

1. Rückblick

Vor dem Jahr 2000 waren die Fahrzeughersteller für die Reifenauswahl verantwortlich, die sie nach langen, intensiven Tests ausgewählt und auf das Fahrzeug abgestimmt hatten. Diese Reifen wurden im Kfz-Schein festgeschrieben.

Aufgrund einer Klage der Europäischen Union (EU) gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen "unnötiger Handelshemmnisse im Markt" musste auf das Festschreiben von Reifenfabrikaten durch die Fahrzeughersteller im Jahr 2000 verzichtet werden. 

In den Jahren 2000 bis 2012 gab es keinerlei gesetzliche Anforderungen an das Seitenführungs- und Bremsverhalten von Reifen auf nassen Fahrbahnen.

2. Gesetzliche Anforderungen an Reifen

Die EU hat im Jahr 2012 ein Reifenlabel eingeführt (siehe Bild 1), das Forderungen an das Bremsvermögen auf nasser Fahrbahn für Reifen von Pkw (C1-Reifen), von leichten Lkw (C2-Reifen) sowie von schweren Lkw und Bussen (C3-Reifen) enthält. Diese Anforderungen werden nochmals in Bremsleistungsklassen von A bis G unterteilt, die durch die Höhe des Nassgriffindex G definiert werden, der eine Aussage über die Bremsleistungsfähigkeit eines Reifens auf nasser Straße erlaubt. 

Dieses Label beinhaltet einen gefährlichen Fehler: Die in Bild 1 für die Nassgriff-Klasse F aufgeführten gesetzlichen Mindestanforderungen für den Nassgriffindex G von C1-, C2- und C3-Reifen sind lächerlich gering und eine große Gefahr für die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer. Dort heißt es für C1-, C2- und C3-Reifen in der gegenwärtigen EU-Gesetzgebung explizit: Der Nassgriffindex G darf kleiner gleich 1,1 bzw. kleiner gleich 0,95 und kleiner gleich 0,65 sein. Das heißt, es sind derzeit nach EU-Gesetzgebung sogar Reifen mit einem Nassgriffindex G=0 zulässig, also Reifen, die keinerlei Bremskräfte übertragen können bzw. die ein Fahrzeug auf nasser Straße überhaupt nicht abbremsen können.

 

2.1 Untersuchungen mit Pkw-Reifen

Fahrdynamische Untersuchungen mit auf dem Markt befindlichen C1-Reifen (Pkw) zeigten bereits deutlich, dass Reifen der Nassgriff-Klassen E und F aufgrund der großen Bremswegunterschiede ein hohes Unfallpotenzial darstellen (Bild 2).

 

Bei Bremsungen aus 80 km/h auf nasser Straße stand ein Pkw mit Premium-Reifen (Nassgriff-Klasse A) nach ca. 32 Metern. Ein Pkw, der mit Budget-Reifen der Nassgriff-Klasse F ausgerüstet war, benötigte ca. 48 Meter, was einer Aufprallgeschwindigkeit auf das bereits stehende Fahrzeug mit den Premium-Reifen von ca. 46 km/h entspricht (Bild 3).

 

Findet dieser Bremsvorgang auf der Autobahn mit der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h statt, dann beträgt die Aufprallgeschwindigkeit bereits über 70 km/h (Bild 4).

 

Zu beachten ist dabei auch der gravierende Umstand, dass durch die viel zu niedrigen, aber gesetzlich erlaubten Grenzwerte für den Nassgriffindex G die Wirksamkeit von Fahrerassistenzsystemen, wie z.B. Notbremsassistent, Spurhaltung und Stabilitätsregelung (ESP), erheblich vermindert wird, was deren Nutzen für die Verkehrssicherheit deutlich reduziert. 

2.2 Untersuchungen mit Reifen für Lkw und Busse (C2- und C3-Reifen)

Nach EVU-Analysen beträgt bei einem Nassgriffindex von G = 0,65, wie für schwere Nutzfahrzeuge und Busse von der EU beschlossen, der für die Bremsung auf nasser Fahrbahn notwendige Kraftschlussbeiwert zwischen Reifen und Fahrbahn lediglich k = 0,35. Dies entspricht in etwa einem Kraftschlussbeiwert zwischen einem Reifen und einem nassen und verschmierten Kopfsteinpflaster.

Weitere Berechnungen und Simulationen ergaben, dass diesem Nassgriffindex G = 0,65 ein Bremsweg von ca. 83 Metern aus 80 km/h zugeordnet werden muss (Bild 5).

 

Im Gegensatz dazu steht – wie in Kapitel 2.1 bereits gezeigt – ein mit Premium-Reifen der Nassgriff-Klasse A bremsender Pkw unter gleichen Bedingungen nach ca. 32 Metern. Bei gleichzeitiger Bremsung in einer Kolonne würde ein schwerer Lkw mit Reifen des von der EU gesetzlich erlaubten Nassgriffindex von G = 0,65 noch mit einer Restgeschwindigkeit von ca. 64 km/h auf den schon stehenden Pkw aufprallen.

Ein aus 100 km/h auf nasser Autobahn bremsender Bus würde unter den gleichen Bedingungen mit ca. 77 km/h auf den bereits stehenden Pkw auffahren (Bild 6).

3. Konsequenzen und Forderungen

1. Die heutigen, gesetzlich geforderten Werte für den Nassgriffindex G sind geradezu kontraproduktiv zum Ziel der EU, die Zahl der Toten und Schwerverletzten auf unseren Straßen bis zum Jahr 2020 zu halbieren. 2.Es ist deshalb dringend notwendig, dass der jeweilige Mindestwert für den Nassgriffindex G in der jetzigen EU-Vorschrift EP 1235/2011 aus Gründen der allgemeinen Verkehrssicherheit signifikant angehoben wird, da eine direkte Verantwortung der EU für etwaige Unfälle, die aus den gesetzlichen Festlegungen der EU zum Bremsleistungsvermögen von Reifen auf nasser Straße resultieren, nicht ausgeschlossen werden kann. 3.Die EVU-Forderung (der sich auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat DVR angeschlossen hat) für den minimal erlaubten Nassgriffindex G lautet für

C1-Reifen: G = 1,25,
C2-Reifen: G = 1,1 und
C3-Reifen: G = 0,95.

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Zur Person

Prof. Dr.-Ing. habil., Dr. h.c. Egon-Christian von Glasner war vor seiner Berufung zum Präsidenten der Europäischen Vereinigung für Unfallforschung und Unfallanalyse (EVU) in leitenden Positionen der deutschen Automobilindustrie tätig. Ab 1980 lehrte Glasner an acht europäischen Universitäten, darunter auch in Karlsruhe und Stuttgart. Glasner ist Inhaber zahlreicher wissenschaftlicher Auszeichnungen und des Europäischen Sicherheitspreises für Nutzfahrzeuge.

 

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